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Sonntag, 1. Februar 2009, 03:31

Die Schönheit der Anarchie
Über das Leben im Moloch Tokio, in dem Menschen spurlos verschwinden können

Das morgendliche Krächzen der Krähen, Glockenspiele an Zebrastreifen, Stimmen aus einem gnadenlosen Lautsprechersystem in Kaufhäusern und Bahnhöfen, die einen unentwegt auffordern, nichts liegen zu lassen, aufzupassen, auf Rolltreppen nur links zu stehen; unerbittlich effiziente Taxi- und Busfahrer; ein gesichtsloses Heer von Angestellten; junge Frauen, gekleidet in den Attributen der internationalen Warenwelt; abgehackte Verbeugungen aus dem Hüftgelenk. Das ist Tokio. Dazwischen stehen wir, übernächtig, verwirrt, benommen. Die anderen sind hier zu Hause, wir sind einfach nur da.

26 Städte und 7 Inseln

Von Wim Wenders stammt der Ausspruch: "In Tokio zu leben ist, als würde man im Traum eines anderen stecken." Zuerst überwiegt das Albtraumhafte: Schieben, Drängen, Abgase, Lärm. Groß-Tokio besteht aus 23 Bezirken, 26 Städten, 3 Landkreisen, 7 Inseln. Die Stadt hat 11,8 Millionen Einwohner. Durch Pendler aus den umliegenden Präfekturen wächst die Zahl tagsüber auf über 15 Millionen Menschen an. Rund um den Kaiserlichen Palast, in einem Radius von 50 Kilometern, leben 32 Millionen Japaner. Morgens ab 8.30 Uhr trifft man knapp Hunderttausend von ihnen in der Yamamote-Linie, der Ringbahn von Tokio: 2.400 Menschen pro Zug, Züge im Zwei-Minuten-Takt. Bahnbeamte mit weißen Handschuhen pressen die Passagiere in die Waggons. Wer in den vollgepackten Zügen jemandem versehentlich auf die Füße tritt, vernimmt die sehr japanische Reaktion: "Suimasen" – Entschuldigung.

Tokio wird mit zwei Schriftzeichen geschrieben. Sie stehen für "östliche Hauptstadt". Östlich von wo? Östlich von Peking, wo einst der Mittelpunkt der Welt lag, das Zentrum japanischer Kultur, der Anfang von allem. Errichtet wurde das einstige Edo nach den Vorstellungen von Shogun Ieyasu Tokugawa. Der Kriegsfürst (1542 bis 1616) ließ ein Labyrinth aus Straßen und Gassen anlegen, das jeden einfallenden Feind verwirren sollte. Das moderne Tokio spiegelt diesen Irrgarten wider. Pfeilgerade Boulevards und Straßen sind die Ausnahme, schlängelnde Linien und Kurven die Regel. Selbst unter der Erde führen nur Umwege zum Ziel. Tokios erste U-Bahn, die 14,3 Kilometer lange Ginza-Linie, 1927 eröffnet, schlägt Haken wie ein japanischer Feldhase: Vom Stadteil Shibuya führt sie zuerst nordöstlich, knickt nach Südwest, schlängelt sich um den Kaiserlichen Palast, um dann nördlich in Ueno zu enden.

Was den Fremden gleichermaßen irritiert und fasziniert, ist der absolute Gegensatz zur europäischen Stadt. Paris, Wien oder Madrid sind homogene, monolithische Gebilde, geprägt von mehr oder minder einheitlichen Baustilen. Es wird unterschieden zwischen geschlossenen Räumen (Gebäude) und offenen Räumen (Parks, Grünanlagen). Scharen von Beamten widmen sich der Denkmalpflege, Bauverordnungen regeln Geschoßhöhe, Farbgebung und Materialien von Gebäuden. In Europa lebt man in Museen, deren Exponate Anspruch auf die Ewigkeit erheben. Tokio dagegen schwelgt in einer unkoordinierten Zersiedelung. Nichts ist dauerhaft, alles fließt. Straßen haben öffentliche Funktionen, Bahnhöfe sind Arterien, durch die die Massen fließen. Kaum etwas, an dem sich das Auge festhalten kann. Die ganze Stadt erscheint wie ein Video-Clip: abgehackte Bildfolgen, zerstückelte Handlungsstränge, künstliche Ersatzspielereien. Nur wer die Wirklichkeit ausblendet, versinkt nicht in der Flut der Eindrücke. Was nicht erklärbar ist, wird mit postmodernen Worthülsen gedeutet. Stadtplaner sprechen von einem "anti-hierarchischen Wachstum", Architekten versuchen die Chaos-Theorie aus Mathematik und Physik auf Tokio zu übertragen. Da es keinen Mittelpunkt gibt, ist alles Peripherie. Für den japanischen Romancier Abe Kobo bildet Tokio eine " grenzenlose Zahl von Dörfern. Diese Dörfer und ihre Menschen erscheinen alle identisch. Soweit man auch geht, man bleibt immer dort, wo man begann. Und wo immer man in Tokio ist, man verirrt sich ."

Moderne Wilde und Nomaden

Keine andere Metropole verdeutlicht so prägnant die Merkmale einer Großstadt des 21. Jahrtausends wie Tokio: Flüchtigkeit, Vergänglichkeit, der Wandel der Physiognomie. In ihr sind, je nach ethnologischer Auslegung, Stammesgruppen unterwegs oder moderne Wilde. Für den Architekten Toyo Ito sind Tokios Bürger ruhelose Nomaden: "Sie leben nicht mehr in festen Häusern, sondern an ständig wechselnden Identitätspunkten der Stadt." Eines der Zentren der Verwandlung heißt Shibuya. Nördlich des Bahnhofs befindet sich das Spielfeld der Jugend Tokios. Ein Gewirr enger Gassen, eine plärrende Ballung von Restaurants, Cafés, Karaoke-Bars, SecondhandLäden, Spielhallen, Boutiquen, Discos, Nachtklubs, Fast-Food-Ketten, Bierhallen und Kabaretts.

Aus den U-Bahn-Schächten strömt eine kompakte Masse vergnügungssüchtiger Studierender, Sekretärinnen und Angestellter. Teenager tragen kurze Jeanshosen und Netzstrümpfe, die über den Knien enden; oder Cinderella-Kleidchen in Schockfarben. Das Blond ihrer Haare kommt in der Natur nicht vor. Geschminkt sind sie tiefbraun. Die in den teuren Chanel-Kostümen sind so genannte "Office Ladies".

Hier ist nichts umsonst, alles kostet Geld. Telefonzellen sind voll mit Broschüren von Liebeshotels, von Telefonsex-Anbietern und den Versprechungen angeblich minderjähriger Hostessen. Auf lilafarbenen Visitenkarten prangen elegante Schriftzeichen, ästhetische Formeln des vermeintlich verinnerlichten Ostens. Tatsächlich sind es Werbekarten von Läden, die gebrauchte Teenagerhöschen verkaufen. Aber wo liegt denn nun das mystische Japan unserer Vorstellungen und Klischees?

Verbirgt es sich hinter den dicken Steinquadern des Kaiserpalastes in Tokio Zentral? Über eine Million Quadratmeter in bester Lage, die geistige Mitte Japans. Keine U-Bahn-Linie durchschneidet den heiligen Boden, kein Hubschrauber darf den Luftraum durchfliegen. Hier herrscht mitten im Großstadtlärm Stille. Hinter einem Vorhang aus Mauern und Kiefern lebt Kaiser Akihito. Der Wohnpalast des Kaisers trägt den altertümlichen Namen "Fukiage-Gosho", was mit "Odem erhebende erhabene Stätte" zu übersetzen ist. Im Frühjahr setzt er im palasteigenen Nassfeld den ersten Reis – eine rituelle Handlung. Nur an seinem Geburtstag (23. Dezember) und zum Neujahrsfest (2. Jänner) werden die Tore für das Volk geöffnet. Unterhalb der zwei Brücken, die zum Haupteingang führen, lichten Standfotografen Schulklassen aus der Provinz ab. Die Schüler tragen die schwarzen Marineuniformen des kaiserlichen Deutschland.

Oder lebt Tokios Seele im Asakusa-Kannon-Tempelbezirk? Um die Jahrhundertwende war Asakusa ein berüchtigtes Rotlicht-Viertel, eine Ansammlung zwielichtiger Spelunken und anrüchiger Theater. Heute geht man durch das "Tor des Donnergottes" über eine enge Straße zum Haupttempel, verbrennt in eisernen Gefäßen falsches Geld, lässt Räucherstäbchen glimmen und ruft, mittels lautem Händeklatschen, die Götter um Hilfe an. Es gibt Städte, in die man fliegt, um in ihnen abzutauchen. Tokio bildet einen perfekten Raum der Nichtexistenz. Die Menschen erscheinen und verschwinden. Chinesische Hilfsköche, australische Englischlehrer, philippinische Barmädchen verlieren sich hier. Spurlos verschwunden bleiben iranische Telefonkartenbetrüger, israelische Straßenhändler und amerikanische Börsenmakler. Selbst Einheimische werden von dem Moloch verschluckt. In meiner Nachbarschaft, im Stadtteil Sangen Jaya, wurde vor Jahren ein Mitglied der terroristischen japanischen Rote Armee Fraktion verhaftet. Über zehn Jahre hatte er sich in der Anonymität der wie durcheinander gewürfelten Häuser verborgen gehalten. Niemand kannte ihn, keiner schien ihn bemerkt zu haben, kaum jemand konnte sich an ihn erinnern. Ein Trotzki der Neuzeit, der überraschend aus dem dunken Raum der Vergessenheit wieder auftauchte.

Sangen-Jaya bedeutet "Drei Teehäuser". Es steht in keinem Reiseführer und wird in keinen Nachschlagwerk erwähnt. Es ist eine U-Bahn-Station an der Shin-Tamagawa-Linie, ein Puzzlestück in der Wegwerfarchitektur.

Tokios Wohn- und Geschäftsviertel, voll kastenförmiger Eigentumswohnungen mit Fantasienamen wie "Hollywood Highs" oder "London Tower", wird brutal zerschnitten von der sechsspurigen Tamagawa Avenue, über der eine zweistöckige Hochstraße verläuft. Nachts dröhnen Halbstarke auf Motorrädern ohne Auspuff durch die Häuserschluchten. In meiner Nachbarschaft gibt es einen Holzhändler, ein Lager für Tatamiböden, mehrere chemische Reinigungen, eine Kfz-Werkstatt, Kolonialwarenläden und Restaurants.

Das Chaos absorbieren

Drei Minuten dauert der Fußweg zum nächsten Supermarkt, der 24 Stunden geöffnet hat. Die meisten Gassen sind so eng, dass sie nur als Einbahnstraßen benutzt werden können. Die Jahreszeiten sind am Plastikschmuck der Einkaufstraßen ablesbar: grüne Sträucher im Frühjahr, falsche Herbstblätter ab Oktober. Sterne sieht man kaum. Der Himmel ist ein Abbild der Stadt, in dem sich die Neonreklamen spiegeln. Wer in Tokio nach oben schaut, erblickt nicht die Unendlichkeit des Universums, sondern sich selbst.

Sangen-Jaya ist ein Mikrokosmos Tokios. Der Neuankömmling unterzieht sich den Initiationsriten einer anderen Kultur. Die Fremde wird nicht erobert, sondern absorbiert. Nach wenigen Wochen besitzt der temporäre Gast seine sozialen Fixpunkte – Stammkneipe, Supermarkt, Café. Er kennt den Inhaber der Drogerie und grüßt den schwatzhaften Kenianer, der in der Boutique am Bahnhof arbeitet. Er weiß, dass es das beste Weißbrot in einer Bäckerei namens "Mutter Lisa" gibt und der Besitzer des China-Restaurants einmal Geographie an der Tokio Universität studiert hat. Er lernt, dass Tokio kein Paradies ist, aber ein geordnetes Chaos: die Müllabfuhr funktioniert, es gibt fließendes Leitungswasser, Strom kommt aus der Steckdose und die U-Bahn kommt in spätestens drei Minuten. Wer lange genug in der Metropole lebt, verinnerlicht den Rhythmus aus Beschleunigung, Stillstand und Vitalität. Hinter den Schiebetüren aus Aluminium rattern Presslufthämmer, verschwinden und entstehen neue Gebäude.

Aber irgendwann bemerkt man die Hässlichkeit nicht mehr, sondern bewundert die Funktionalität. Für den, der sich an der ewigen Schönheit großer Weltstädte berauschen will, gibt es Ansichtskarten aus Paris.

Quelle: Hans H. Krüger, geb. 1950, lebt als Journalist in MünchenDie Schönheit der Anarchie

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Sonntag, 1. Februar 2009, 06:15

Also erstmal ist der Text wirklich toll,
und sehr Interessant.
Ich wusste einige dinge davon noch nicht,
wer also mehr über Tokio wissen möchte,
dem ist hiermit sicher geholfen.


Allerdings frage ich mich, worauf möchtest du genau hinaus?
Ich finde es ein wenig Schade,
dass du nicht auch etwas aus deiner sicht schreibst.
Du stellst auch keine frage, deshalb weiß man nicht so recht
was man genau jetzt dazu schreiben soll.
Noch dazu weiß ich nicht ob die User wirklich Lust haben,
ein so langen Text zu Posten.
Ich möchte dich nicht durchgehend Kritisieren,
ich finde es toll das du sonst soviel hier im Japanbereich Postest.
Vielleicht wäre es praktischer,
dass für dich wichtigste raus zu schreiben
und dazu den Link zu posten für die,
die mehr Lesen wollen.
Und eben eine Frage an der sich die Leute beim Antworten orientieren können ^^


In mir ist nichts mehr wie es war,
zwar spürst du mich, doch bin ich
unsichtbar.


N°R°C

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Sonntag, 1. Februar 2009, 12:48

Naja, der Text soll einfach nur einen klein Einblick gewären.Auf iwas bestimmtes bin ich nicht aus.

Gut n Statement hätt ich noch drunter setzen können, aber iwie war ich dazu dann doch nicht mehr in der Lage ^^

Link gab es auch nicht, da ich den Text mal iwnn so gefunden hab.Die Threads sollen in erster Linie nur zur Info diesen bzw wier hier einfach mal die Eindrücke anderer Vermitteln.Ich werd jetzt nicht alle möglichen Erinnerungen von Gott weiß wem posten, allerdings fand ich diesen Text lesenswert.

Deine Kritik hab ich dennoch zur Kenntnis genommen und werde versuchen, die Threads anders zu gestalten.